Was kommt nach dem Liberalismus?
Autokratische Regime erstarken, der Ruf nach Führung wird angesichts dramatischer Krisen auch in Demokratien immer lauter. Muss sich der Liberalismus neu erfinden? Parag Khanna und Herfried Münkler, zwei der wichtigsten geopolitischen Stimmen der Gegenwart, über das neue Ende der Geschichte.
Herr Khanna, Herr Münkler, hierzulande waren viele überrascht vom Ukrainekrieg. Ging es Ihnen auch so?
Parag Khanna: Mein Ausgangspunkt sind nicht unsere eigenen Befindlichkeiten, sondern die Realität vor Ort. Als jemand, der etwas Zeit in der Ukraine und noch viel mehr Zeit in Russland verbracht hat, weiß ich, dass der Konflikt die ganze Zeit über nicht eingefroren war. Das hätte einem 2008, als Russland Georgien angegriffen hat, und spätestens 2014, als Russland die Krim annektiert und in den Ostprovinzen der Ukraine eingegriffen hat, auffallen müssen. Ungeklärte Grenzkonflikte haben immer das Potenzial, sich zu verschärfen. Wenn man also überrascht über den Angriff war, lag das an der Ignoranz gegenüber dieser Situation.
Herfried Münkler: Es gab aber Gründe für die Fehleinschätzung. Zum einen war es schwierig abzusehen, welches Ziel Putin verfolgte: die Abwehr der NATO-Osterweiterung, die Verhinderung demokratischer Ordnungen in Russlands Nachbarländern oder die Wiederherstellung des russischen Imperiums. Ging man von Ersterem aus, war der Ukrainekrieg nicht vorherzusehen. Denn ein NATO-Beitritt der Ukraine war bereits durch die Schaffung ungeklärter Grenzfragen in den Ostprovinzen sehr unwahrscheinlich. Hinzu kam: Vor allem die USA haben Russland in den letzten Jahren geopolitisch nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, denn der große Gegenspieler hieß China. Des Weiteren hatten die Europäer eine bestimmte Vorstellung von der Nachkriegsordnung nach 1989 beziehungsweise 1991, nämlich wirtschaftliche Verflechtung als Grundlage von politischem Vertrauen. Man glaubte, das sei das Passepartout für die Verwandlung von Konflikten in Kooperation. Man dachte, mit Nord Stream 1 und 2 könne man so etwas wie materialisiertes Vertrauen herstellen. Doch jetzt hat sich herausgestellt, dass man mit wirtschaftlicher Macht militärische Macht nicht stoppen kann. Das ist eine dramatische Situation, weil sie das gesamte Konzept der westlich-europäischen Weltordnung zerschlagen hat. Man hatte Putin im eigenen westlichen Paradigma interpretiert, in dem er lediglich ein kleiner Störenfried war, von dem man sich nicht das gesamte System kaputt machen lassen wollte.
Ist die „Zeitenwende“, die Aufstockung des deutschen Militäretats, eine vernünftige Reaktion auf die Ereignisse oder übertriebene Hektik?
Münkler: Man kann wohl sagen, Olaf Scholz ist in der Realität angekommen und hat verstanden, dass wirtschaftliche Macht allein nicht ausreicht. Vielleicht ist ihm, als er an diesem langen Tisch bei Putin saß und vergeblich auf ihn eingeredet hat, klar geworden, dass die alte Russlandstrategie nicht mehr durchzuhalten ist. Ich würde dafür im Übrigen eher den Begriff „Zäsur“ als „Zeitenwende“ verwenden: Hier bricht die Zeit in ein Davor und ein Danach. Die Vorstellung, wir könnten die Russen in unsere Idee von Ordnung einbinden, ist vorbei. Das zeigt sich an Putins großer geschichtspolitischer Erzählung, der zufolge die Ukraine schon immer zu Russland gehört habe. Das ist der radikale Gegenentwurf zum west- und mitteleuropäischen Pazifizierungsmodell nach den beiden Weltkriegen: Wir vergessen den Albtraum der Vergangenheit und konzentrieren uns auf die Aufrechterhaltung des Status quo. Das heißt, die jetzt lebenden Menschen, und nicht die Vergangenheit, entscheiden über politische Zugehörigkeit. Stellen wir uns vor, westliche Politiker würden argumentieren wie Putin. Dann wäre in Europa die Hölle los. Von Elsass-Lothringen bis nach Ostpreußen und Oberschlesien würden die Deutschen sagen, das holen wir uns demnächst zurück. Putins Geschichtserzählung und sein Angriffskrieg waren und sind eine Kriegserklärung an unser Modell der Friedensordnung.
Khanna: Einerseits ist dieser Krieg durchaus ein ernüchternder Moment für Europa, durch den es mehr in der Realität ankommt und endlich die Notwendigkeit einer europäischen Aufrüstung erkennt. Andererseits aber ist die neue Rüstungs- und Verteidigungspolitik Deutschlands eher eine symbolische Reaktion. Eigentlich hätte Europa schon seit Jahrzehnten eine vernünftige Verteidigungsstrategie entwickeln sollen. Die Reaktion jetzt, der Versuch, in ein paar Wochen eine Strategie zu finden, kommt gleichzeitig zu spät und zu schnell. Es ist an der Zeit, dass Europa endlich eine glaubwürdige und langfristige Strategie entwickelt, nicht nur für die jetzige Situation, sondern auch für künftige Herausforderungen.
Münkler: Ja, aber der Aufbau einer strategischen Kultur braucht Zeit. Was jetzt zunächst passiert, ist eine Umgewichtung von Auslandseinsätzen zur Landes- und Bündnisverteidigung. Langfristig ist die wohl wichtigste und schwierigste Frage: Brauchen die Europäer eine eigene nukleare Option? Auf die Unterstützung der Amerikaner ist ja, wie man bei Trump gesehen hat, nicht unbedingt Verlass. Aber die Frage einer gemeinsamen europäischen Nuklearoption ist schwierig, weil es dann jemanden geben muss, der letzten Endes den Koffer mit dem roten Knopf hat. Das würde einen dramatischen Souveränitätstransfer der europäischen Staaten an die europäische Spitze bedeuten. Denn im Ernstfall kann man nicht sagen, „leider müssen die 27 Minister erst mal zusammenkommen und beratschlagen“. Die letzte Entscheidung über Freund und Feind, Tod und Leben wird an einen einzigen delegiert. Zugleich ist die Nuklearoption wohl notwendig, wenn wir uns den fundamentalen Wandel gerade ansehen: Putin hat die nukleare Eskalationsdrohung eingesetzt, um einen konventionellen Krieg zu ermöglichen. Früher dachte man, die nukleare Drohung würde den konventionellen Krieg verhindern. Jetzt wird die nukleare Drohung als Schild über die darunterliegenden Streitkräfte gehalten, und der Westen weiß nicht, wie er reagieren soll. Putin hat Eskalationsdominanz. Es wird eine große Herausforderung sein, darauf Reaktionsoptionen zu entwickeln.
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