Steffen Mau: „Wir dürfen nicht zu ohnmächtigen Beobachtern der Geschichte werden“
Deutschland muss der Ukraine schwere Waffen liefern, um einen Präzedenzfall für andere Autokraten zu schaffen, meint der Soziologe Steffen Mau. Dennoch dürfe man die Warnung vor einer Eskalation nicht einfach abtun.
Herr Mau, jüngst wandten sich 28 Intellektuellen in einem Offenen Brief an Bundeskanzler Scholz und forderten, keine weiteren schweren Waffen an die Ukraine zu liefern. Haben Sie diesen Brief auch unterzeichnet?
Auch wenn ich angefragt worden wäre, hätte ich nicht unterschrieben, da ich anderer Meinung bin als die Unterzeichner: Es gibt gewichtige Gründe, die für die Lieferung schwerer Waffen an die ukrainischen Streitkräfte sprechen, um sie bei der Verteidigung ihres Landes zu unterstützen. Und zwar nicht nur wegen der notwenigen Solidarität mit den Menschen in der Ukraine, sondern auch, damit es nicht zu einem Flächenbrand kommt und als nächstes Moldau, Polen und andere Länder an der Reihe sind. Doch auch wenn der Brief Mutmaßungen enthält, die ich nicht teile, würde ich ihn nicht so scharf kritisieren, wie viele andere das tun. Das sind teils kluge Stimmen, die einfach zu einer anderen Risikoabwägung kommen und dafür auch Gründe angeben können. Diese mögen mich nicht überzeugen, sollten aber dennoch einen Platz im Diskurs haben. Wer jetzt von „Putinverstehern“ spricht oder den Brief als zu dumm abtut, als dass man sich mit ihm auseinandersetzten müsste, macht es sich jedenfalls zu einfach. Vor dem Risiko des Einsatzes von Nuklearwaffen warnen ja auch sachkundige Menschen aus Russland wie der Nobelpreisträger und Journalist Dmitrij Muratow.
Welche Mutmaßungen sind es, die Sie nicht teilen?
Erstens halte ich die Einschätzung für falsch, dass die Lieferung schwerer Waffen der ausschlaggebende Punkt sein sollte, der Deutschland zur Kriegspartei macht. Putins Krieg gegen die Ukraine ist erklärtermaßen ein Krieg gegen den Westen und er hat Deutschland schon lange im Visier, wenn er von der vermeintlichen „Naziregierung“ hierzulande spricht. Zweitens ist es paternalistisch zu behaupten, dass die ukrainische Zivilbevölkerung so leiden würde, dass wir als Deutschland nun in der Verantwortung wären, ihnen die Waffen vorzuenthalten, um weitere Opfer zu vermeiden. Insbesondere, weil nicht nur die Regierung der Ukraine, sondern auch weite Teile ihrer Bevölkerung nicht willens sind, sich dem Aggressor Putin zu unterwerfen.
Viele halten Putin für irrational und sehen in den Waffenlieferungen die Gefahr einer Provokation, die zu einem Atomkrieg führen könnte. Sie kommen hier zu einer anderen Einschätzung?
In der Tat, ja. Denn wenn er vollständig irrational wäre und er die Ukraine eingedenk aller dafür nötigen Konsequenzen wirklich vernichten wollte, hätte er schon in den ersten Kriegswochen Maßnahmen ergreifen können. Es hätte schon dann zum Einsatz chemischer und biologischer Waffen kommen oder eine Generalmobilisierung geben können. Das allerdings hat der Widerstand der Ukraine mit westlicher Unterstützung bislang nicht bewirkt. Dass weitere Gegenwehr dazu führt, ist also reine Spekulation, obwohl ein Restrisiko immer bleibt. Putin und sein innerer Zirkel scheinen – trotz aller Brutalität – nicht völlig blind für Kosten dieses Krieges zu sein, die auch für Russland und den Machtapparat selbst entstehen. Lassen Sie mich deshalb eines nochmals deutlich sagen: Es gibt für den Westen keine andere Möglichkeit, als Putin mit Stärke entgegenzutreten. Auch, weil Putins Krieg ein Präzedenzfall für andere Autokraten werden könnte.
Wie meine Sie das?
Wenn westliche Demokratien die Ukraine nicht tatkräftig unterstützten, was auch schwere Waffen einschließt, werden China oder Indien das als ein Zeichen der Schwäche deuten. Das wiederum könnte zu weiteren territorialen Konflikten führen. Uns stellt sich somit mindestens eine doppelte Verantwortung: Einerseits gegenüber der Ukraine, andererseits aber auch gegenüber den Ländern, die sich in geopolitischen Einflusszonen von Regional- oder Großmächten mit Expansionsgelüsten befinden. Wenn wir Putin nicht stoppen, könnten wir schon bald in einer Welt leben, in der Demokratien vor Autokraten ducken und wir nur noch ohnmächtige Beobachter der Geschichte sind. Wir sollten alle Risiken gut bedenken, aber eben nicht jede Drohrhetorik für bare Münze nehmen, um uns nicht in allem, was wir tun können, zu beschränken. Je mehr wir das klar signalisieren, desto einflussreicher können wir sein. •
Steffen Mau lehrt als Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2021 erhielt er den renommierten Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Sein Buch „Sortiermaschinen – Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“ ist 2021 bei C.H. Beck erschienen.
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