Mit Arendt gegen Arendt
Juliane Rebentischs kritische Relektüre Hannah Arendts geht der frappierenden Aktualität einer streitlustigen Intellektuellen auf den Grund – und wendet sich gegen deren Heiligsprechung.
Hannah Arendt ist nicht nur die berühmteste Denkerin des letzten Jahrhunderts, sie ist nun auch You-Tube-Influencerin. Kein Video aus der Philosophiesparte wurde jedenfalls so dringend empfohlen wie ihr Fernsehinterview mit Günter Gaus, das der Journalist im Jahr 1964 mit ihr geführt hatte. Vom Inhalt abgesehen, ist dies ein Dokument der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden. Eine Performance, in der Arendts schnarrende Stimme und Divenhaftigkeit beindrucken und natürlich die Zigarette, von der die gefährlich sich herunterkrümmende Asche immer genau dann geschnippt wird, wenn auch im Gespräch eine Pointe zündet.
Was aber hat die charismatische Kettenraucherin uns heute noch zu sagen? Für Juliane Rebentisch, Professorin für Philosophie und Ästhetik in Offenbach, steht Arendts Aktualität außer Frage. „Liest man Hannah Arendt heute“, so zitiert sie den Philosophen Richard J. Bernstein, dann „überkommt einen ein fast schon unheimliches Gefühl zeitgenössischer Relevanz.“ Weshalb sich Rebentisch aber noch lange nicht einverstanden erklärt.
Zwar erscheinen die Themen, mit denen sich Arendt befasste, noch immer virulent, ihr Denken dazu aber in vielem anfechtbar; mit einer „Heiligsprechung“ erwiese man der streitlustigen Intellektuellen keinen Dienst. Der Streit um Pluralität betitelt Rebentisch ihr Buch, womit der Schlüsselbegriff benannt ist. Pluralität, so fasste es Arendt, sei die schlichte Tatsache, dass „nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern“, kein Mensch gleiche je einem anderen. Am Leitfaden der Pluralität untersucht Rebentisch Arendts Denken in zehn Kapiteln, die, von „Wahrheit“ über „Kolonialismus“ bis „Demokratie“, allesamt auf aktuelle Debatten abzielen.
Philosophischer Kolonialismus?
Was Arendt selbst widerfahren war, kann da nicht außen vor bleiben. Ein Leben, so resümiert Rebentisch, „geprägt durch die Erfahrung von Antisemitismus, Staatsterror, Flucht und Staatenlosigkeit und, in den USA, durch die Enthüllungen einer von unwahren Behauptungen, von Täuschung und Selbsttäuschung seitens der US-Regierung durchzogenen Geschichte des Vietnamkrieges“. Der Wiedererkennungseffekt solcher Umstände ist frappierend.
Stichwort: postfaktisches Zeitalter. Die Polyfonie alternativer Fakten, die nebeneinander erfolgreich Geltung beanspruchen, hat unter Trump und nun Putin eine Welt ins Wanken gebracht. Rebentisch erinnert an Arendts Begriff des „Tatsachenmaterials“, das als Antidot ins Feld geführt werden könnte, wenn es, laut Arendt, eben doch Fakten gebe, die nicht hinterfragbar seien. Ein zunächst beruhigend klingendes Argument, das Rebentisch für unzulänglich erklärt. Schließlich seien Tatsachenfeststellungen ja sogar in der Naturwissenschaft stets ein Resultat von Vermittlung und Interpretation, weshalb auf den Prozess einer Beweisführung nicht verzichtet werden könne. Mit Bertolt Brecht und aus Anlass der amerikanischen Desinformationspolitik zum Thema Vietnam sprach Arendt von „finsteren Zeiten“. Diese Finsternis sieht Rebentisch auch, gerade heute. Nur scheint ihr das emphatische Beharren auf dem Faktischen eher Teil des Problems als Teil der Lösung zu sein.
Überhaupt kritisiert Rebentisch die Philosophin für zu schematische Scharfstellungen. In deren berühmtestem Buch Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft lasse Arendt ein auffälliges Unverständnis für den afroamerikanischen Unabhängigkeitskampf erkennen. Ihr politischer Begriff der „Rasse“ sei nichts weiter als „philosophischer Kolonialismus“. „In Afrika und Australien“, so schrieb Arendt tatsächlich, lebten „bis heute die einzigen ganz geschichts- und tatenlosen Menschen“, die sich „weder eine Welt erbaut“ noch die Natur in ihren Dienst gezwungen hätten. Indem Arendt den Begriff der „Rasse“ mit dem der „Weltlosigkeit“ verbinde, naturalisiere sie, so Rebentisch, die Gewalt von Kolonisierung und Sklaverei und verdecke das „Freiheitsund Würdepotenzial der Verfolgten“. Arendts „Rasse“-Begriff mag auch Lesern schräg erscheinen, die nicht mit allen Wassern der postkolonial imprägnierten Kritik gewaschen sind. Folgt man Juliane Rebentisch, dann ist die heute so bewunderte Hannah Arendt eine Philosophin mit brandaktuellen Themen und dringend zu hinterfragenden Denkfiguren.
Juliane Rebentisch
Der Streit um Pluralität. Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt
Suhrkamp, 288 S., 28 €
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Kommentare
Es zeigt sich immer wieder, dass Philosophen lieber die Finger lassen von Politik. Das Politische verträgt philosophische Denkkraft nicht. Kraftvolle philosophische Gedanken ecken immer mit dem Politischen an. Anders gesagt: Philosophen sind furchtbare Politiker und vice versa. Siehe auch Nietzsche und Hannah Arendts Lover Heidegger ;-)