Katharina Pistor: „Das Finanzsystem ist demokratisch nicht kontrollierbar“
Die rechtlichen Regeln des globalen Finanzkapitalismus werden von einer Handvoll amerikanischer und britischer Anwaltskanzleien geschrieben. Die Juristin Katharina Pistor erklärt im Interview, wie das sein kann, warum Kapital vor allem ein Code ist und wieso wir über Modelle der Vergesellschaftung nachdenken sollten.
Frau Pistor, wenn von Kapital die Rede ist, stellen sich viele Menschen vermutlich Maschinen in einer Fabrik oder Wertpapiere vor. Sie argumentieren in ihrem jüngst auf Deutsch erschienenen Buch Der Code des Kapitals hingegen, Kapital sei vor allem ein rechtlicher Code. Was meinen Sie damit?
Schon Karl Marx hat bemerkt, dass Kapital eigentlich ein soziales Verhältnis ist. Denn es ist ja stets die Frage, wer diese Maschinen in den Produktionsprozess einbringt. Wer kann sich also anmaßen, den Mehrwert von den Arbeitnehmern abzuschöpfen? Es ist derjenige, der Eigentum an den Produktionsmitteln hat – und Eigentum ist wiederum ein rechtliches Konzept. Schließlich hat man Eigentum nicht einfach so, sondern man besitzt ein Verfügungsrecht über Grund und Boden, Maschinen oder geistiges Eigentum, weil die Gesellschaft einem dieses zugesteht. Und wer bessere Rechte hat, kann darüber stärker verfügen, als jemand, der schwächere Rechte hat. Eigentum beruht also letztlich auf diesem Code, der sicherstellt, wer unter welchen Bedingungen welche Rechte an welchen Gütern hat. Letztere können Land sein, Unternehmen oder Schulden. Eigentum besteht deshalb immer mindestens in einem Dreiecksverhältnis: Man hat ein Verfügungsrecht über eine Sache mittels einer Rechtsordnung, die wiederum sozial gestützt ist. Es geht also immer um den Staat, den Inhaber der Rechte und das Objekt selbst.
Hierzulande streitet die große Koalition gerade über sogenannte Share Deals, also um bestimmte Rechtskonstruktionen, die beim Erwerb von Ackerland oder städtischen Immobilien Steuerersparnisse ermöglichen. Ist das ein typisches Beispiel für die Codierung von Eigentum?
Ja, es wird ständig versucht, neue Verfügungsrechte zu erfinden, um Ansprüche gegenüber bestimmten Gütern so codieren zu können, dass einer bessere Rechte hat als ein anderer und dadurch bestimmte Kosten – in diesem Falle die Grunderwerbssteuer – spart. Und der entscheidende Punkt dabei ist eben: Es muss rechtens sein. Denn man kann zwar auch versuchen, die Rechtsordnung zu umgehen, beispielsweise mittels mafiöser Strukturen, aber um auf Dauer Vermögenswerte zu schaffen, ist es sinnvoller, es rechtens zu machen. Und da kommen dann die Anwälte ins Spiel, die immer wieder versuchen, neue Gestaltungsräume aufzulegen, die nicht nur Kosten einsparen, sondern auch mit einem Rechtsanspruch verbunden sind, der, wenn es hart auf hart kommt, von den Gerichten durchgesetzt wird.
Dass jemand Boden besitzt und darüber entsprechende Verfügungsgewalt hat, diesen also verkaufen oder verpachten kann, scheint heute selbstverständlich. Historisch gab es jedoch auch ganz andere Formen der rechtlichen Codierung von Boden.
Früher waren Formen der Allmende weit verbreitet. Und das konnte bedeuten: Rechte zur Bodennutzung vermochte man nur für eine gewisse Zeit zu besitzen oder verschiedene Gesellschaftsmitglieder verfügten lediglich über eingeschränkte Eigentums- und Nutzungsrechte. Ebenso war es möglich, dass verschiedene Leute zu verschiedenen Tageszeiten das Recht besaßen, sich Wasser aus dem Grund zu holen. Im Buch beschreibe ich mit Blick auf England, wie die Grundherren dann jedoch ab dem 16. Jahrhundert zunehmend entschieden, den Bauern nicht mehr ihre althergebrachten Nutzungsrechte zuzugestehen. Es gab also traditionelle Praktiken, beispielsweise die Kühe zu den entsprechenden Jahreszeiten auf den Wiesen grasen zu lassen, die in dem Moment beendet wurden, als den Landlords klar wurde, dass sie mehr Wert aus dem Land ziehen könnten, wenn sie andere von der Nutzung ausschließen, um den Boden exklusiv zur Schafzucht oder zum Getreideanbau zu nutzen – und deshalb Zäune bauten und Hecken einzogen.
Wogegen die Bauern jedoch anfangs Widerstand leisteten.
Zunächst wurden die Hecken und Zäune wieder eingerissen. Später gingen die Fälle vor Gericht, um zu klären, wer denn nun eigentlich Recht hat. Oder genauer: Wer das bessere Recht hat. Denn seiner Zeit gab es in England keine Landregister oder Grundbücher. Die Entscheidung darüber, wer das bessere Recht hat, die Bauern oder die Landlords, ging deshalb über 100 Jahre hin und her, letztendlich gaben die Gerichte im Prinzip aber den Landlords das Recht, die Bauern von Grund und Boden auszuschließen, wodurch individuelle, absolute Eigentumstitel erst geschaffen wurden. Das war die Voraussetzung, um aus dem Land Kapital ziehen zu können.
Dieses individuelle und absolute Eigentumsrecht erscheint heute indes kaum noch historisch gewachsen, sondern vielmehr „natürlich“. Gleichzeitig offenbart sich im Alltag aber oft auch ein starkes Sensorium für die „Gemachtheit“ des Rechts, beispielsweise wenn Menschen sich über absurde Paragrafen mokieren. Woher kommt es also, dass das Recht in bestimmten Bereichen als „natürlich“, in anderen hingegen als „künstlich“ wahrgenommen wird?
Wir internalisieren viele Normen, wissen aber oft nicht genau, woher diese eigentlich kommen. Ähnlich ist es ja bei der Legitimierung unserer sozialen und politischen Ordnungen. Indem man sich auf das Althergebrachte oder Natürliche bezieht, wird so getan, als hätte es das schon immer gegeben. Dabei ist die soziopolitische Ordnung, die sich seit der frühen Neuzeit entwickelte, natürlich nicht die einzig denkbare. Aber sie ist eben eine, in der die Gewaltverfügung zentralisiert wurde, was wiederum stets die Frage aufwirft: Wer hat Zugang zu diesem Gewaltmonopol? Bei Gewaltmonopol denken viele Menschen wahrscheinlich daran, dass der Staat uns von rechtswidrigen Verhalten abhält oder sich in private Angelegenheiten einmischt. Aber wir alle greifen auch in ganz alltäglichen Beziehungen auf das staatliche Gewaltmonopol zu. Nämlich dann, wenn wir einen Vertrag abschließen oder ein Eigentum beanspruchen. Denn es ist das Privatrecht, das Einzelnen die Möglichkeit gibt, darauf besser zugreifen zu können als andere.
In ihrem Buch zeichnen Sie etwa nach, was zumindest Nicht-Juristen staunen lässt: Ein Großteil des finanzökonomisch relevanten Privatrechts wird heute von amerikanischen und britischen Anwaltskanzleien geschöpft und dann weltweit in den einzelnen Staaten durchgesetzt – und zwar oft ohne, dass da je ein Parlament oder Gericht drüber entscheidet. Wie kann das sein?
Zunächst hat die Privatrechtsordnung natürlich Quellen im staatlichen Recht. In Deutschland ist das das im Jahr 1900 verabschiedete Bürgerliche Gesetzbuch. Beim britischen Common Law gab es wiederum Gerichte, die im Laufe der Zeit bestimmte Prinzipien als rechtens erklärten. Es gibt also ein Gerüst der Privatrechtsordnung, auf das wir uns beziehen müssen, um dieses Recht durchsetzen zu können. Allerdings besitzen Privatrechtsordnungen eine inhärente Flexibilität. Denn man kann nicht ständig zum Staat rennen, wenn man einen Vertrag neu strukturieren will. Das Privatrecht hat deshalb eine Ordnung geschaffen, in der es relativ wenig zwingendes Recht gibt. Das BGB betont etwa ausdrücklich die Privatautonomie, nach der man Verträge frei gestalten kann, solange man nicht bestimmte Grundregeln übertritt. Und diese Gestaltungsmöglichkeit wird dann beispielsweise ausgenutzt, um einen Kaufvertrag zu gestalten, der womöglich gar kein wirklicher Kaufvertrag ist, diesem aber ausreichend ähnelt, sodass die Kaufvertragsregeln anwendbar sind und die Gerichte keine Schwierigkeiten hätten, diesen im Zweifelsfall durchzusetzen. Dann kommt zweitens hinzu, dass Recht stets unvollständig ist. Da es für lange Zeit gelten und verschiedene Verhältnisse abdecken soll, ist es in einer relativ generellen Sprache verfasst, die wiederum Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Und drittens geht es beim Privatrecht um Durchsetzbarkeit, wofür man aber nicht jedes Mal vor Gericht muss. Solange man darstellen kann, dass das, was man gemacht hat, rechtens ist, und andere das so hinnehmen, reicht das. Denn im Kontext des Privatrechts muss einen ja letztlich die Gegenpartei vor Gericht bringen, was aber mit potentiellen Kosten verbunden ist. Durch die aggressive Interpretation einer bestehenden Rechtsordnung gibt es somit die Möglichkeit, über Jahre hinweg schon Gewinne einzutreiben, selbst wenn ein Gericht irgendwann feststellen sollte, dass das illegal war. Denn selbst wenn einem ein Patent irgendwann abgesprochen werden sollte, kann man damit 10 oder 20 Jahre lang viel Geld verdienen.
Nun beschreiben Sie in ihrem Buch, dass es zumindest in bestimmen Bereichen des Privatrechts, insbesondere bei finanzstarken und global tätigen Akteuren, also Hedgefonds oder Aktiengesellschaften, global fast nur zwei Rechtsordnungen zur Anwendung kommen. Und zwar das britische Common Law und das Recht des US-Bundestaates New York. Wie kam es dazu?
Dafür muss man zunächst einen Schritt zurückgehen. Mit dem Aufkommen der Nationalstaaten wurden einerseits die bis dahin geltenden Partikularrechte, etwa jene von Bayern oder Baden-Württemberg, standardisiert. Andererseits wurden dadurch aber auch neue Grenzen geschaffen. Trieben Deutsche nun mit Italienern oder Franzosen Handel, war folglich die Frage, welches Recht anwendbar sei. Deshalb wurde das internationale Privatrecht geschaffen, also das Recht, Recht zu wählen. Demnach können sich zwei private Parteien ihr Vertragsrecht selbst aussuchen.
Was wäre da ein Beispiel?
Wenn Sie in Deutschland sitzen und ich in den USA, sie aber nicht dem amerikanischen Recht trauen, ich wiederum dem deutschen nicht, könnten wir uns auf das Schweizer Recht einigen, zumindest so lange wir irgendeine Beziehung zur Schweiz herstellen könnten. Beim Unternehmens- und Aktienrecht hat Deutschland etwa lange darauf beharrt, dass in Deutschland sitzende Unternehmen auch dem deutschen Recht verpflichtet sein müssen. Der Europäische Gerichtshof hat dies jedoch unterbunden, weil dies dem Prinzip der Freizügigkeit von Personen innerhalb der EU widerspreche. Seit den späten 90er Jahren gibt es also eine Rechtsprechung des EuGH, in der die freie Wahl der Rechtsordnung für eine Aktiengesellschaft oder GmbH mit der Mobilität juristischer Personen begründet wird. Letzteres ist natürlich erst einmal eine Fiktion, da sich hier real oft gar nichts bewegt. Das zeigte sich 1999 im Centros-Fall. Das gleichnamige Unternehmen eines dänischen Ehepaares wollte in Dänemark Geschäfte machen, wodurch es nach dänischem Recht aber ein gewisses Kapitalminimum hätte aufbringen müssen. Das Ehepaar hat daraufhin eine englische GmbH gegründet, sich aber nie aus Kopenhagen wegbewegt, sondern lediglich die Registrierungsdokumente nach London geschickt. Durch das EuGH-Urteil musste Dänemark das zulassen.
Global hat sich bei solch einem „Rechteshopping“, wie Sie es in ihrem Buch nennen, das bereits angesprochene britische Common Law sowie das Recht des US-Bundesstaats New York durchgesetzt. Weil beide besonders unternehmensfreundlich sind?
Ja, die sind in der Tat sehr unternehmensfreundlich. Das hat damit zu tun, dass insbesondere das britische Common Law viel formbarer als das deutsche Zivilrecht ist. Zudem werden die Richter aus der Anwaltschaft rekrutiert. Erstere waren also zuvor jahrzehntelang Anwälte, die ebenfalls neue Rechtsformen geschaffen haben und in dieser Hinsicht dementsprechend über ein offeneres Ohr als jene Zivilrechtler verfügen, die in Deutschland direkt nach dem Studium ins Gerichtswesen gehen. London und New York sind deshalb nicht nur die großen Finanzzentren der Welt, sondern in puncto Finanzgüter auch die wichtigsten Rechtsquellen. Und das funktioniert, weil andere Länder, allen voran jene der Europäischen Union, für Kapitalfreiheit votieren, und zwar auch gegenüber Drittländern. Folglich müssen auch jene Kapitalgüter, die nach New Yorker Recht geschaffen werden, in Deutschland durchgesetzt werden.
Das scheint zumindest binnenlogisch insofern nachvollziehbar, als dass Drittstaaten sich nur schwer mit der Macht dieser Finanzzentren anlegen „können“ oder wollen. Aber warum gibt es zudem dann noch „klassische“ Steueroasen wie die Cayman Islands. Selbst die USA oder Großbritannien müssten doch eigentlich ein Interesse daran haben, diese zu schließen, weil ihnen durch diese Geld verloren geht.
Zum einen ist es rechtlich nicht ganz einfach, diese Lücken zu schließen. Zum anderen ist der tiefere Grund aber ein politischer. Schließlich fließt eine Menge Geld von den Cayman Islands zurück in die USA. Viele Juristen sind gegenüber den Regulierungsbehörden da auch ganz deutlich und sagen, dass ohne diese Steuervorteile viele Geschäfte nicht gemacht würden, diese aber unter dem Strich mehr Kapital, Liquidität und Kredite schafften. Was tatsächlich stimmt: Eine Menge jener Gelder, die zum Kauf amerikanischer Staatsanleihen genutzt werden, laufen durch die Cayman Islands, meistens handelt es sich um Tochtergesellschaften der großen Finanzintermediäre. Es ist also letztlich die enge Verknüpfung von Staat und Finanzindustrie, die verhindert, dass hier härter durchgegriffen wird.
Sie haben vorhin beschrieben, dass die Codierung von Kapital stets mit einem privilegierten Zugriff bestimmter Akteure auf eben dieses verbunden ist. Ein Beispiel findet sich im Recht der Kapitalgesellschaften. Geht ein Handwerker pleite und hat Schulden, muss er unter Umständen mit seinem Privatvermögen haften. Wer hingegen Anteilseigner in einer Aktiengesellschaft oder GmbH ist, kann nie mehr verlieren, als er eingesetzt hat. Geht das Unternehmen, an dem man Anteile besitzt, pleite, wird man für dessen etwaige Schulden nicht in Haftung genommen. Wirkt ungerecht.
Funktional besehen, liegt der Hauptgrund für diese Form der beschränkten Haftung beim Kapitalmarktrecht darin, dass im Kontext kapitalintensiver Produktion eine möglichst große Menge an Investoren erzeugt werden soll, darunter dann eben auch Kleinanleger, die ihre Ersparnisse in eine Aktiengesellschaft stecken. Müssten diese Leute mit ihrem Hab und Gut haften, würden sie vermutlich nicht investieren. Wobei aber eben auch der Handwerker durch die Gründung einer GmbH sein Privatvermögen schützen kann - sofern er das geforderte Mindestkapital aufbringen kann, was ja ebenso sinnvoll ist, da er sonst seinen Betrieb vielleicht gar nicht gegründet hätte. Das Problem besteht eher darin, dass in diesem Bereich viele Aspekte zusammenkommen, die isoliert betrachtet sinnvoll sind, neben der beschränkten Haftung etwa die Möglichkeit von Aktiengesellschaften Tochtergesellschaften gründen zu können, die aber in der Kombination zur Folge haben, dass Unternehmen rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten für spekulative Geschäfte bekommen, die sich teilweise überhaupt nicht mehr nachvollziehen lassen. Das hat man etwa im Fall von Lehman Brothers gesehen.
Die Investment Bank kollabierte 2008 nicht zuletzt auch deshalb, weil die Regulierungsbehörden, Rechtsexperten und selbst die eigenen Leute die Firmenkonstrukte und vielfach verbrieften Finanzprodukte nicht mehr wirklich durchschauten. War diese undurchsichtige Hyperkomplexität ein Produkt der Deregulierungspolitik der letzten Jahrzehnte? Oder tritt so etwas im Prinzip immer bei Finanzkrisen auf?
Finanzkrisen entstehen ja oft, nachdem sich bestimmte Handlungsweisen ausgebreitet haben, bei denen man glaubt, um den Titel des schönen Buches von Carmen M. Reinhart und Kenneth S. Rogoff zu zitieren: This time is different. Dann stellt sich aber eben heraus, dass die neuen Strategien genauso risikoreich waren wie viele andere. Im Fall der letzten Finanzkrise führte die Komplexität und Raffinesse, mit der Finanzprodukte gebaut wurden, zunächst zu zwei Dingen. Zum einen entstand der Glaube, dass diese Produkte, wenn sie schon so kompliziert sind, dann auch irgendwie richtig und sicher sein müssten. Zum zweiten folgte daraus aber auch die Unfähigkeit vieler, zu sehen, wo die Risiken liegen. Und dann passierte, was oft in Finanzkrisen passiert: Wenn Risiken verschoben oder ausgelagert werden, ergibt sich daraus eine Unterschätzung der systemischen Rückkopplungen. Und je höher die Komplexität, je länger die Verknüpfung der Ketten ist, desto wahrscheinlicher wird es, dass die systematischen Rückkopplungen unterschätzt werden. Ein schönes Beispiel dafür: Kurz nachdem Bob Bernanke 2006 zum Präsident der US-Notenbank ernannt wurde, traf er sich in New York mit Bankern und betonte, wie gut es sei, dass deren Institute relativ wenig Schulden hätten, was die Banker verwundert zurückließ, weil Bernanke offensichtlich kein realistisches Bild der Lage hatte. Wobei aber auch viele Anwälte oder andere Marktteilnehmer seiner Zeit überhaupt nicht mehr durchstiegen.
Wenn selbst Expertinnen und Experten die Materie nicht mehr durchblicken, stellt sich die Frage, inwiefern solche Praktiken überhaupt noch durch eine demokratische Öffentlichkeit kontrollieren werden können?
Vor zwei Jahren war ich bei einem Workshop der Berliner Akademie der Wissenschaft über das Finanzsystem und einige Kollegen haben da – wie ich glaube: richtig – gesagt, dass es sich mittlerweile um ein unsteuerbares System handelt. Es ist zwar menschlich gemacht, aber letztlich nicht wirklich steuerbar. Und das ist natürlich auch deshalb ein Problem, weil man durch die Volatilität des Finanzsystems gezwungen wird, immer wieder Liquidität reinzupumpen, um es vor der Selbstzerstörung zu bewahren. Und weil dieses System nicht steuerbar ist, unterliegt es auch keiner Kontrolle, schon gar keiner demokratischen Kontrolle. Und hinzu kommt dann eben noch, dass die Rechtsregeln, die benutzt werden, um ein solch unsteuerbares System zu schaffen, ja auch nicht mehr einer Jurisdiktion unterliegen. Die Unternehmen, die sich beispielsweise in Deutschland bewegen, können ihre Produkte woanders herholen. In Bezug auf London ist das durch den Brexit zwar etwas schwieriger geworden, aber der Kapitalfluss ist durch die europäischen Verträge nach wie vor garantiert.
Dass die Codierung von Recht auch immer die Herstellung gewisser Privilegien bedeutet, zeigt sich besonders bei immateriellen Gütern, also Ideen oder Formeln, die durch Patente geschützt sind und dementsprechend exklusiv durch Unternehmen kommerzialisiert werden. Das erscheint aber ein gewisses Paradox zu erzeugen. Innerhalb von Marktwirtschaften, die ja das Versprechen in sich tragen, Wettbewerb und Konkurrenz herzustellen, konzentrieren sich zunehmend Macht und Wissen, sodass Wettbewerb gerade verhindert wird. Google verfügt mittlerweile etwa über derart große Datenbestände, um seinen Algorithmus zu füttern, dass das Unternehmen buchstäblich außer Konkurrenz läuft.
Ja, das ist richtig. Ich versuche im Buch ja auch zu zeigen, dass schon historisch viel von dem, was wir als Wettbewerb begreifen, tatsächlich oft kein fairer Wettbewerb war, weil einige die Macht hatten, sich bessere Rechte zu verschaffen. Und die Entwicklung der letzten Jahrzehnte besteht darin, dass die wichtigsten Kapitalgüter mittlerweile jene sind, die erst durch komplexe Codierungen entstanden sind, also etwa Patentrechte oder Finanzgüter. Das heißt: Die Rechtsordnung selbst wird dazu benutzt, um neue Kapitalgüter zu erzeugen, die dann wiederum von der Ordnung geschützt werden, auch wenn sie Ungleichheit produzieren.
Wobei gerade im Kontext der Pandemie ja auch das Argument hervorgebracht wird, erst das Patentrecht schaffe die Anreize für neue Innovationen, etwa bei Impfstoffen.
Da wäre mein Gegenargument, dass die Menschheit immer sehr kreativ gewesen ist. Schließlich gibt es auch heute noch viele Menschen, die statt in die Pharmaindustrie in die Wissenschaft gehen, weil sie ihre Forschung nicht aufgrund der Patente machen, sondern wegen der damit verbundenen Erkenntnisse oder dem medizinischen Nutzen für Patienten. Zumal der zentrale Punkt der Patentierung ja darin besteht, dass sich dadurch etwas kapitalisieren lässt, weshalb sie oft nicht einfach nur ein Mittel zum Zweck ist, sondern zum Selbstzweck wird.
Der kanadische Historiker Quinn Slobodian vertritt in seinem unlängst erschienen Buch Globalisten die These, bei der neoliberalen Globalisierung ging es keineswegs um die Schaffung freier Märkte, sondern vielmehr um die institutionelle „Ummantelung“ von Märkten im Sinne von bestimmten Profitinteressen, etwa durch die WTO. Ist das, was sie beschreiben, etwas ähnliches? Eine Art juristische „Ummantelung“ des Marktes?
Im Fall des Rechts ist es weniger ein Mantel, als vielmehr die DNA, der genetische Code. Deswegen benutze ich auch den Begriff der Codierung, nicht der Kodifizierung. Letzteres ist ein juristischer Begriff, den man im Kontext des BGB benutzen kann, aber mir ging es um eine Art Software- oder Gencode. Denn das, was ich beschreibe, ist in den Markt eingebaut, weil es keinen skalierbaren Markt ohne durchsetzbare Ansprüche geben kann. Das würden Neoliberale vermutlich sogar zugestehen, nur tun sie eben so, als ob die staatliche Durchsetzung von Vertrags- und Eigentumsrechten immer „natürlich“ wäre. Negiert wird dann jedoch, dass der Zugang zum Recht und der rechtlichen Codierung entscheidend dafür ist, um durchsetzbare Ansprüche zu kreieren. Das Recht ist also der genetische Code des Kapitals, ein Gemeingut, das benutzt wird, um private Reichtümer zu schaffen.
Nun gibt es aber auch zunehmend Initiativen, die diese Schöpfung privaten Reichtums einschränken wollen. In Berlin läuft derzeit etwa eine Kampagne zur Enteignung des Immobilienkonzerns „Deutsche Wohnen“. Halten Sie derlei für richtig?
Man muss über solche Modelle nachdenken. In vielen Großstädten sind die Wohnungspreise so hoch, dass sie für die meisten Menschen nicht mehr erträglich sind. Das verändert die Städte und ist letztlich für alle schädlich. Wenn man für bestimmte Modelle der Vergesellschaftung ist, muss man natürlich genau überlegen, wie sich das bewerkstelligen lässt. Wenn es jedoch Einwände gibt, wie jenen, die vergesellschafteten Immobilien würden dann vernachlässigt werden und herunterkommen, ließen sich da meines Erachtens schon Ordnungsformen finden, die das verhindern können. Man sollte die Städte also nicht einfach den privaten – und oft auch spekulativen – Wohnungspreisentwicklungen überlassen. •
Katharina Pistor lehrt als Edwin B. Parker-Professorin für Rechtsvergleichung an der Columbia Law School in New York. Ihr Buch „Der Code des Kapitals – Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft“ erschien 2020 auf Deutsch bei Suhrkamp.
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