Dinner for One
Eine maßgeschneiderte Diät für jeden Körper – das verspricht die „Präzisionsernährung“. Doch was bringt die Menschen dann noch zusammen an einen Tisch?
Das Essen ist als gemeinschaftsstiftendes Ritual schon seit Jahren gefährdet. Denn die „Singularisierung“, die gesellschaftliche Bevorzugung des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen, schreitet unaufhörlich voran, wie Andreas Reckwitz beschreibt. Mit erheblichen Auswirkungen auf die Ernährung: Während, so Reckwitz, „Essen in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft weitgehend sättigendes Mittel zum Zweck“ war und „dem Erhalt der Arbeitsfähigkeit dienen“ sollte, wird es nun zu „einem Gegenstand der Sorge, des Genusses und Erlebens, des Wissens und der Kompetenzen, der Performanz und des sozialen Prestiges (…), ausgestattet mit einer identitätsbildenden Kraft: Man ist, was man isst.“ Dies führt zu einer immer feineren Ausdifferenzierung der Ernährungsweisen. Frutariern, Veganern, Anhängern der Paleo- und der Low-Fat-Diät fällt es schwer, einen gemeinsamen kulinarischen Nenner zu finden. Die Vereinzelung der Essenden droht sich dank eines neuen Trends noch zu steigern: Bei der sogenannten „Präzisionsernährung“ geht es darum, für jeden Körper die richtige Kost zu ermitteln.
Authentisch schlemmen
Die israelischen Wissenschaftler Eran Segal und Eran Elinav nämlich haben festgestellt, dass die Reaktionen auf Lebensmittel (z. B. Blutzuckeranstieg) völlig unterschiedlich ausfallen: Manch einer verträgt Weißbrot und Eiscreme besser als Dinkel und Bananen. Die Hoffnung ist nun, dass sich anhand eines Gentests, einer Blut- oder Stuhlprobe die individuelle Disposition ermitteln und die Ernährung darauf abstimmen lässt. Zahlreiche Apps und Selbsttests bieten auf diesem Gebiet bereits ihre Dienste an, bislang allerdings ohne nachweisbare Erfolge. Das Ziel jedenfalls ist klar: eine Ernährung so individuell wie das Genom oder Mikrobiom eines Menschen. Es gilt das Motto: Du isst, was du bist. Damit wird die Singularisierung des Essverhaltens auf die Spitze getrieben. Würde sich dieses Modell durchsetzen, wäre es mit Verabredungen zum Essen wohl vorbei, weil man sich auf kein gemeinsames Menü mehr einigen könnte. Was an ihre Stelle treten könnte, zeigte Luis Buñuel bereits 1974 in seinem Film Das Gespenst der Freiheit: Während für die feine Gesellschaft im Film die Nahrungsaufnahme eine private Angelegenheit ist, versammelt sie sich feierlich zum gemeinsamen Toilettengang um den Tisch. Solchermaßen könnte die Notdurft zum Allgemeinen und Verbindenden werden, zum neuen Kitt der Gesellschaft. •
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Die Frage irritiert. Was soll mein Körper schon wissen? Ist das Problem denn nicht gerade, dass er nichts weiß? Weder Vernunft noch Weisheit besitzt? Warum sonst gibt es Gesundheitsratgeber, Rückenschulen, Schmerztabletten, viel zu hohe Cholesterinwerte. Und wieso gibt es Fitness-Tracker, diese kleinen schwarzen Armbänder, die ihrem Träger haargenau anzeigen, wie viele Meter heute noch gelaufen, wie viele Kalorien noch verbrannt werden müssen oder wie viel Schlaf der Körper braucht. All das weiß dieser nämlich nicht von selbst – ja, er hat es bei Lichte betrachtet noch nie gewusst. Mag ja sein, dass man im 16. Jahrhundert von ganz allein ins Bett gegangen ist. Aber doch wohl nicht, weil der Körper damals noch wissend, sondern weil er von ruinöser Arbeit todmüde und es schlicht stockdunkel war, sobald die Sonne unterging. Wer also wollte bestreiten, dass der Körper selbst über kein Wissen verfügt und auch nie verfügt hat? Und es also vielmehr darum geht, möglichst viel Wissen über ihn zu sammeln, um ihn möglichst lang fit zu halten.
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Die Zeit anhalten. Den Augenblick genießen. Aufgehen in voller Gegenwärtigkeit. Das Glück im Jetzt, es scheint so leicht – und bildet doch den größten Sehnsuchtspunkt des Menschen. „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!“ So lautet die Wette, die der unglückliche Faust in Goethes gleichnamigem Drama mit dem Teufel Mephisto abschließt. Faust, einsam und gefangen in seiner Strebsamkeit, kann sich nicht fallen lassen in die Zeitlosigkeit der Lust. Und so verspricht der Wissenschaftler dem Teufel seine Seele, wenn es diesem gelingt, ihn aus seinem verbissenen Sein zu befreien, das stets genau weiß, wohin es will, und darüber sein Leben, genauer: die Liebe verpasst.
Familie - Zuflucht oder Zumutung?
Der Herd ist noch an. Es fehlen einige Gabeln sowie Tante Barbara, die wieder „im Stau“ steckt. Egal. Anfangen, „bevor das Essen kalt wird“, mahnt meine Mutter wie jedes Jahr. Vor allem aber: „Langsam essen!“ Vater hat derweil schon den zweiten Bissen im Mund. Der Neffe spielt unter der Tischplatte auf seinem Smartphone. Meine Schwester versetzt ihm dezent einen Tritt. Der Schwager zischt: „Lass ihn doch einfach!“ Dass die Flüchtlingskrise als Thema tabu ist, hatten wir im Vorfeld per Rundmail zwar ausdrücklich vereinbart, aber was interessiert das schon Onkel Ernst? Denn erstens hat er kein Internet und zweitens kein anderes Thema. Ein verzweifelter Blick auf die Uhr. Und zur Gattin. Noch 22 Stunden und 34 Minuten, bis der Zug zurück nach Hause fährt. Durchhalten. Frieden wahren. Schließlich ist heute Weihnachten. Und das hier meine Familie.
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Stehen Sie stundenlang vor Produkten und vergleichen das Preis-Leistungs-Verhältnis, nur um dann zu Hause auch noch alle im Internet verfügbaren Angebote zu prüfen? Dann leiden Sie an FOBO, der Angst vor besseren Möglichkeiten („fear of better options“).

Muk-bang
Muk-bang ist, wenn junge Frauen Unmengen an Nahrung in sich hineinstopfen und Hunderttausende, meist auf Diät befindliche Geschlechtsgenossinnen live im Internet zusehen.
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Im gesellschaftlichen Krisenfall feiern wir oft jene, die rettend eingreifen, wenn das Unheil schon passiert ist: Ärzte, Forscherinnen, Feuerwehrleute. Zu Recht. Doch fallen dabei anerkennungstheoretisch alle jene unbesungenen Heldinnen und Helden unter den Tisch, die durch bewusstes Unterlassen das Unglück erst gar nicht haben entstehen lassen. Gerade in Zeiten der Pandemie gilt deshalb: ein Hoch auf das Nichttun!
