Die Hand als Waffe
Der Handschlag bezeugte einst Friedfertigkeit, in Zeiten der Pandemie jedoch erscheint die Hand selbst als Biowaffe. Grund genug, den Gruß für immer aufzugeben?
Beim Betrachten alter Filmaufnahmen, auf denen Politiker leutselig durch die Menge schreiten und Hände schütteln, überkommt inzwischen viele ein Gefühl des Befremdens, vielleicht gar der Empörung. Es ist schließlich nicht von der Hand zu weisen: Bei jedem Schütteln und Drücken bahnt man bis zu zehn Millionen Keimen, darunter möglicherweise dem Coronavirus, den Weg zum Mitmenschen. Doch was hat es menschheitsgeschichtlich auf sich mit diesem riskanten Ritual? Einer verbreiteten Hypothese zufolge etablierte sich der Gruß in der mittelalterlichen abendländischen Kultur als anschauliche Versicherung, keine Waffe zu tragen. Als Begrüßungs- und Abschiedsgeste steht der Händedruck mithin für die Bezeugung von Friedfertigkeit. Insofern ließe sich die Geste als alltägliche Variante dessen verstehen, was Theodor W. Adorno einst das „Eingedenken der Natur im Subjekt“ nannte: eine rituelle Erinnerung an die naturhafte Aggressionsbereitschaft des Menschen, die gleichzeitig die Aufhebung der Gewaltandrohung bedeutet.
Das feine Gefädel
In pandemischen Zeiten hat sich der Blick auf den Händedruck jedoch radikal verändert: Keineswegs zeigt er nunmehr die Waffenlosigkeit an. Vielmehr ist jetzt die Hand selbst, in den Worten des Spezialisten für Infektionskrankheiten Gregory Poland, eine „Biowaffe“. Bedrohlich erscheint heute nicht mehr die aggressive Triebnatur des Nächsten, sondern dessen schiere Leiblichkeit, die ihn zur Brut- und Wohnstätte allerlei Keime macht. Nicht nur Virologen wie Anthony Fauci mögen angesichts dessen hoffen, dass das Händeschütteln endgültig ein Ende hat. Doch sind die Alternativen wenig einnehmend: Ellbogen- und Faustgruß liegen in ihrer Symbolkraft irgendwo zwischen jugendlicher Checker-Geste und einer Allegorie der Ellbogengesellschaft. Keine dieser Gesten erlaubt wie der Handschlag das individuelle Austarieren von Nähe und Distanz, in dem das „feine Gefädel, das (…) miteinander verbindet“ (Adorno), seinen Platz findet. Der Händedruck ist deshalb eine Errungenschaft, die die Zivilisation sich erhalten sollte. •
Weitere Artikel
Funktionale Jonglage
Der Suhrkamp Verlag hat Niklas Luhmanns Schrift Die Grenzen der Verwaltung publiziert. Im Zentrum des Buches steht die vor allem in pandemischen Zeiten hochrelevante Frage: Wie kann die Verwaltung zahlreichen Ansprüchen genügen, ohne sich selbst aufzugeben? Eine Rezension von Marcel Schütz.

Philosophische Flaneure
In Zeiten der Pandemie sind Spaziergänge zum neuen Volkssport avanciert: Die Parks und Bürgersteige sind voll. Philosophen ließen sich indes schon immer gehend inspirieren. Ob in der Stadt, auf dem Land oder in den Bergen: Das Flanieren war für viele nicht nur wohltuender Zeitvertreib, sondern unerlässlich fürs eigene Nachdenken. Grund genug für eine Top 5 philosophischer Spitzenspaziergänger.

Von der Leinwand auf die Straße
In Myanmar hat sich der sogenannte „Hunger Games“-Gruß als Zeichen des Widerstands etabliert. Im gleichnamigen Film steht dieser für Solidarität mit den Rebellen. Doch warum greifen Protestbewegungen überhaupt Symbole aus Filmen auf? Ein Impuls von Lisz Hirn.

Protest und Popkultur
In Myanmar hat sich der sogenannte Hunger Games-Gruß als Zeichen des Widerstands etabliert. Im gleichnamigen Film steht dieser für Solidarität mit den Rebellen. Doch warum greifen Protestbewegungen Symbole aus Filmen auf?

Rückkehr des Horrorclowns
Sie erschrecken uns zu Tode, bringen das Unheimliche in die heimische Lebenswelt zurück. Weshalb die neuen Gruselgestalten in Wahrheit nichts als eine Normalisierung unserer sozialen Verhältnisse bedeuten.
Das Rasen der Zeit
Ob Fußballstadien, Theater oder Spätis. Durch die Corona-Pandemie sind viele (halb-)öffentliche Räume geschlossen oder in ihrer Existenz bedroht. Grund genug, sie in einer Serie philosophisch zu würdigen. In Folge 2: Clubs, die verschwitzten Heterotopien.

Begegnungen wie Tangenten
Ob Fußballstadien, Theater oder Spätis. Durch die Corona-Pandemie sind viele (halb-)öffentliche Räume geschlossen oder in ihrer Existenz bedroht. Grund genug, sie in einer Serie philosophisch zu würdigen. In Folge 1: Cafés, die Oasen des Neutralen.

Version einer anderen Welt
Ob Clubs, Cafés oder Theater. Durch die Pandemie sind viele (halb-)öffentliche Räume geschlossen oder in ihrer Existenz bedroht. Grund genug, sie in einer Serie philosophisch zu würdigen. In Folge 3: Stadien, Orte motivierender Gedankenübertragung.
